BAKM e. V. Hamburg
Alevitische Gemeinde Bergedorf e.V.
Die Grundlagen Alevitentum
1. Glaubensbekenntnis
Aleviten glauben an den einen und einzigen Gott (türk.=Allah/Hak).
Gott ist für die Aleviten der Schöpfer, der Gerechte, der Allgegenwärtige und der Weise und lässt zugleich alle Lebewesen an sich Anteil haben. Diese Aufzählung der Eigenschaften Gottes ist nicht vollständig.
Aleviten glauben an den Propheten Mohammed als den Gesandten Gottes und drücken dies in ihrem Glaubensbekenntnis aus: „Es gibt keinen anderen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet und Ali sein Freund“. Aleviten verwenden diese Glaubensbekenntnis in einer Kurzform: „Ya Allah, ya Muhammed, ya Ali“. Aleviten glauben an eine Identität, eine geistige Gleichartigkeit zwischen Gott, Mohammed und Ali und sprechen als Kultspruch „allah- muhammed-ali“. Dieses Einssein bezieht sich im Kern auf das Gottesverständnis von Mohammed und Ali. Das alevitische Glaubensbekenntnis beinhaltet vier konkrete Aussagen:
Es gibt einen Gott: Aleviten glauben nur an einen Gott. Sie bezeichnen Gott als „Tanrı, Allah, Hu, Hak, Hüda, Şah, Ulu“. Gott ist überall zu fühlen und zu sehen. Göttlichkeit ist überall vorhanden.
Mohammed ist sein Prophet. Er vermittelte die Gottesbotschaft.
Ali ist sein Heiliger. Er lebte heilig und zeigte den Menschen den Weg zu Gott. Allah- Mohammed- Ali sind Eins. Sie werden zusammen an- und ausgesprochen und in gleicher Weise angebetet. Nach Auffassung der Aleviten gehören Mohammed und Ali zum Lichte Gottes, das diese Welt seit ihrer Schöpfung erhellt.
Allah hat alles geschaffen, was existiert. Nach dem Glauben der Aleviten wollte Gott durch die Schöpfung sein Geheimnis offenbaren. Hacı Bektaş Veli formulierte im 13. Jh. die Kraft der Seele wie folgt: „Das Paradies im Universum spiegelt sich im Herzen der Menschen wieder.“ (türk.=Kainattaki cennetin insandaki mukabili gönüldür). Die Aleviten bekennen sich zu Gott als dem Schöpfer und sprechen von einer liebevollen Beziehung zwischen Gott und den Menschen. Yunus Emre, der türkischsprachige Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, beschreibt diese Beziehung in einem seiner berühmten Gedichte.
Yaradılanı severiz, Yaradandan ötürü. (Yunus Emre)
Wir lieben das Geschaffene Ja um des Schöpfers willen!
(Übersetzung: Prof. Dr. Annemarie Schimmel)
Nach alevitischer Auffassung erscheint Gott den Menschen als die Wahrheit in verschiedenen Formen. Aleviten formulieren das folgendermaßen: „Nur diejenigen können diese Wahrheit sehen, die den Vervollkommnungsprozess durchmachen.“ Die Auffassung, dass Mohammed und Ali einen Teil der Wahrheit bilden, wird im Glaubensbekenntnis formuliert. Mohammed und Ali sind vollkommen und bleiben vollkommen. Sie zeigten den Menschen ihre Vollkommenheit in ihrer Lebensweise. Auch ihre Nachkommen (die zwölf Imame) sind von dem gleichen Licht erleuchtet. Deshalb ehren die Aleviten die 12 Imame als Symbole für diesen Glauben.
2. Der Glaube an die heilige Kraft (türk.=kutsal güç)
Aleviten glauben an eine heilige Kraft des Schöpfers, die vor allem durch Mohammed und seinen Schwiegersohn, Ali, sowie durch dessen Nachkommen bis heute an die Menschen weiter gegeben wird. Nach diesem Glauben wird der Mensch als Widerspiegelung (türk.=yansıma) Gottes betrachtet. Mohammed und Ali sind die Vor- bilder für diese Widerspiegelung, indem sie einerseits Gott reflektie-tieren und Gott ähnlich sind und andererseits Gott im Menschen reflektieren und menschliche Eigenschaften haben.
Nach alevitischem Verständnis hat jeder Mensch, sei er Alevit, Christ, Sunnit oder Schiit, Frau oder Mann die heilige Kraft. Gott wollte seine Schöpfermacht und Schönheit durch die Erschaffung des Menschen zeigen. Dies belegen Ausdrücke wie „meine Seele“, „mein lieber Freund“, „mein lieber schöner Gott“ (türk.=canım, güzel dost, güzel yüzlüm, güzel tanrım). Nach diesem Verständnis ist der Mensch das vollkommenste und schönste Lebewesen im Universum, auch wenn die Menschen diese Eigenschaften durch äußere Einflüsse verlieren können.
Für die Aleviten beinhaltet die heilige Kraft als eine Gabe Gottes den Verstand (türk.=akıl), der ermöglicht, dass die Menschen Gott und seinen Willen erkennen können. Der Verstand des Menschen als Gabe Gottes hat zur Konsequenz, dass jeder Mensch für die Führung seines Lebens verantwortlich ist. Der Mensch kann ein Scheitern nicht auf Gottes Willen zurückführen.
Aleviten glauben, dass das Leid nicht auf Gottes Willen zurückzuführen ist, sondern durch menschliches Versagen bzw. durch das kollektive Fehlverhalten der Menschen entsteht. Der Glaube an die heilige Kraft im Menschen fordert von jedem Menschen ein aktives Bemühen um persönliche Vervollkommnung und den Dienst in der alevitischen Gemeinde. Viele alevitische Gelehrten und Dichter formulierten diesen Schöpfungsglauben mit dem Spruch: „En-el hak: Ich bin identisch mit Gott“. Das heißt, ich bin sein Ebenbild und mein Ebenbild liegt in Seinem Wesen umschlossen. Hallac-ı Mansur (gest. 922) und Seyit Nesimi (gest. 1417) sind die berühmtesten Gelehrten der Aleviten gewesen, die durch die islamischen Gelehrten als Gotteslästerer zum Tode verurteilt wurden. Diese Vorstellung des Eins seins mit Gott war für den orthodoxen Islam unerträglich.
3. Der Glaube an den Weg zur Vervollkommnung der Menschen (türk.=insan- i kamil olmak)
Aleviten glauben, dass jeder Mensch seine heilige Kraft, die eine Gabe Gottes ist, durch den eigenen Weg in sich entdecken kann. Gott hilft und gibt den Menschen Kraft, diesen Weg einzuschlagen.Aleviten schöpfen immer wieder Zuversicht aus dem Glauben daran, dass sie die heilige Kraft in sich haben und dass Gott ihnen die Kraft und den inneren Frieden schenkt, sich auf den Weg der Wahrheit zu begeben. Dieser Glaube ist die Quelle der Hoffnung auf Vervoll-kommnung. Aleviten glauben daran, dass am Ende dieses Prozesses der einzelne Mensch, wenn er seine heilige Kraft wieder entdeckt hat, sich mit Gott wiedervereinigen kann. Das nennt man im Alevitentum „die Vervollkommnung“(türk.=insan olmak) – Menschwerden.
Für Aleviten ist der Mensch mit Hilfe seines Verstandes fähig, Gott zu erkennen und selbständig zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; somit ist der menschliche Verstand „akıl – can“ für Aleviten eine Quelle der Offenbarung. Der Weg des Menschwerdens wird den Aleviten in der Lehre gezeigt.
Aleviten beten zu Gott nicht aus Furcht vor der Hölle oder aus Hoffnung auf das Paradies, sondern um seiner ewigen Schönheit willen. Aleviten haben ein Bild von der Freiheit des Menschen vor Gott und von einem Verhältnis des Menschen zu Gott, das nicht von der bedingungslosen Unterordnung unter ein Gesetz bestimmt wird, sondern von der Fürsorge Gottes für den freien Menschen, von der Hilfe Gottes bei dem Bemühen des Menschen, Gott immer näher zu kommen.
Um dieses Ziel zu erreichen, glauben die Aleviten, dass sie nicht nur ein Leben auf dieser Erde haben, sondern dass Gott ihnen viele Leben gibt. Der Vervollkommnungsprozess ist für die Aleviten eine Folge der Fürsorge Gottes für die Menschen: Gott gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich ihm durch viele Leben hindurch immer mehr anzunähern. Die Aleviten schließen dabei nicht aus, dass Menschen anderer Religionszugehörigkeit auf eigenen Wegen Gott erkennen und ihre eigene heilige Kraft entdecken können.
4. Der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele (türk.=canın ölmezliği)
Die Aleviten glauben, dass die Menschenseele als Geschöpf heilig ist. Gott schuf die Menschenseelen gleichwertig und gleichzeitig. Die Seelen kommen von Gott und gehen zurück zu Gott. Die Körper sterben, jedoch nicht die Seelen. Alle Seelen ruhen bei Gott, bis sie Gestalt annehmen und zur Welt kommen. Nach dem Glauben der Aleviten stirbt die Seele eines Menschen nicht, sondern kehrt heim zu Gott, um nach einer angemessenen Zeit in einen neuen Körper überzugehen.
Dieser Kreislauf dauert so lange, bis die Seele die Vervollkommnung erreicht. Wenn Seelen sich noch nicht in diesem Kreislauf befinden, so warten sie bei Gott darauf, dass ein neues Kind entsteht. Yunus Emre behandelt in seinen Gedichten den Glauben an die ewige Existenz der Seele. „Die Körper sind sterblich, nicht die Seelen.“ (türk.=Ölürse tenler ölür, canlar ölesi değil). Nach diesem Glauben bedeutet die Existenz der Seele gleichzeitig die geistige Existenz eines Menschen.
Für Aleviten ist Menschsein ohne Seele undenkbar, denn die Seele begründet das Menschsein des Individuums. Auch andere Geschöpfe haben eine Seele (die auch als unsterbliche Energie bezeichnet wird). Der vollkommene Mensch kann durch diese Energie die letzte Station dieser Reise, die Vervollkommnung erreichen. Die Aleviten sprechen von „Vier Toren“, die der Mensch zu durchschreiten hat, um seiner Bestimmung auf der Erde gerecht zu werden und um die vorhin beschriebene Entwicklung (die An-näherung an Gott) zu erreichen.
Prof. Dr. Annemarie Schimmel beschreibt die Liebe eines alevitischen Derwisches zu diesem Weg mit folgenden Worten: „Er weiß, dass das Leben nur ein Kleid ist, das Gott ihm anvertraut hat und ihm wieder nehmen wird. Aber immer ist es die alles umfassende (Gottes-) Liebe, die er besingt und die ihn belebt wie auch tötet.“ Der Begriff Sterben wird von Aleviten als ein biologischer Begriff verstanden. Das biologische Sterben für Aleviten ist nicht identisch mit dem Ende des Lebens.
Deshalb drücken di Aleviten das Sterben des Körpers mit dem Ausdruck: „zu Gott gehen oder sich mit Gott vereinigen (türk.=Hakka Yürümek)“ aus. Das bedeutet, dass sich die Seele eines Menschen nach dem körperlichen Tod Gott zuwendet bzw. dass die Seele eines Menschen ihren Körper wechselt (türk.=don değiştirmek). Vom alevitischen Glaubensverständnis heraus gibt es keinen gewollten Märtyrerstatus, also kein Sterben für den Glauben. Aleviten nennen nur solche Persönlichkeiten Märtyrer, die ermordet wurden, weil sie sich zum Alevitentum bekannten und sich für die Wahrheit aussprachen. Der Selbstmord auf einen angeblichen „Gottesweg“ auf Kosten anderer Menschenseelen gilt bei Aleviten als Ungehorsamkeit gegenüber Gott und als schwerste Sünde. Bekannte Autoren weisen in ihren Veröffentlichungen auf den Glauben an die ewige Existenz der Seelen hin:
• „Der Körper stirbt, die Seele wandert. Die Seele ist im Körper nur zu Gast“.
• „Diese Religion (das Alevitentum) hat gleichzeitig den Glauben, dass die Seele (ruh) in einer Welt mit unzähligen Wesen ständig umherwandert (reincarnation und incarnation).
Hatayi (Şah İsmail) beschreibt in seinem Gedicht: In Tausenden Körpern kreiste Ali“.
• „Die Seele ist unsterblich. Sie bleibt gemäß Gottes Willen eine Weile in einem bestimmten Körper, trennt sich davon und wechselt in einen anderen Körper. Nach diesem Glauben ist die Seele Träger des geistigen Lebens. Die Vervollkommnung eines Menschen ist die letzte Stellung dieser Reise, Vielen Kindern in alevitischen Familien werden die Namen von verstorbenen Verwandten gegeben in dem Glauben, dass ihre Seele in das Neugeborene wandern würde. In manchen Gegenden der Türkei wird immer noch im Frühling die Beerdigungszeremonie wiederholt, mit dem Glauben, dass der Verstorbene im Frühling mit der Natur auferstehen würde.
Aleviten trösten die zu Gott gehenden „Seelen“ und die Hinterbliebenen aus dem Glauben heraus, dass das Sterben lediglich den Körper betrifft, nicht aber die Seele. Da die „von Ego, Angst und Besitzgeist gereinigte“ Seele unschuldig von Gott geschaffen ist, wird sich nach einer angemessenen Zeit wieder mit einem neuen Menschenkörper vereinigen. Aus dieser Perspektive heraus, betrachtet man das Sterben als einen Übergang in eine neue Lebensphase. Am Abend des Beerdigungstags werden religiöse Gesänge (türk.=duvaz-i İmam) auf der Saz in Anwesenheit von Verwandten und Bekannten gesungen.
Am 40. Tag nach dem „Gang zu -Gott“ findet eine Zeremonie (türk.= dardan indirme) mit allen Bekannten und Verwandten statt, in der eventuell noch offene Fragen mit der Seele der Person geklärt werden sollen. Falls die „zu Gott gegangene Person“ Schulden hinterlassen hatte, werden sie von den Hinterbliebenen und insbesondere von der Familie übernommen, mit der man in die Weggemeinschaft (türk.=musahip) eingetreten ist. In der Gemeinde fragt der Geistliche nach Einvernehmen mit der Seele der „zu Gott gegangenen Person“, nach ihrer Schulden und gegebenenfalls nach Begleichung der Schulden. Nachdem die Beteiligten ihr Einvernehmen kund getan haben, erklärt der Geistliche das Einvernehmen als gegeben.
Anlässlich des Sterbenstages findet eine Fürbitte- Zeremonie statt, in der alle Beteiligten für die Rückkehr der Seele in die Welt beten.